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CORRECTIO
 

Die gegenseitige Zurechtweisung

Liebe Leserinnen und Leser!

Es scheint ratsam und realistischer zu glauben, dass wir Menschen im Grunde unseres Herzens für die Aufnahme von Kritik eher nicht empfänglich sind. Selbst die im Ansatz gut gemeinten Aufforderungen zur konstruktiven Kritik begegnen immer wieder dem neuralgischen Bereich der eigenen Seele. Vor einem 'Treffer' in die Sphäre der eigenen Schattenseite – was im Dunklen und Verborgenen liegt, wer sieht das schon – kann eine noch so wohlgeformte Kritik nicht bewahren. Und dennoch sind kritische Rückmeldungen an uns von elementarer Bedeutung für die eigene Einschätzung und Korrektur.

Das Eingangstor zu jeglicher Kritik ist die Frage nach der Erlaubnis: Darf ich etwas Kritisches anmerken? Erlauben Sie mir, etwas Persönliches über Sie zu sagen? Für manche mag ein solches verbales Ansinnen nur unnütze Etikette sein, jedoch für den um die eigene Psyche Wissenden bildet ein solches Einverständnis eine wichtige Voraussetzung. Zum einen muss derjenige, der die Kritik annehmen soll, in der Lage sein, diese zum derzeitigen Zeitpunkt auch verkraften zu können. Das Gegenüber könnte sich nämlich in einer Situation befinden, in der das Ich so geschwächt ist, dass weiteren Vorwürfen nicht mehr standgehalten werden kann. Zum anderen wird durch eine Bejahung die Psyche in Konzentration und Aufmerksamkeit versetzt: 'Ich habe mich dafür entschieden, dass eine Verletzung oder Verwundung auf mich zukommen kann. Ich bereite mich innerlich darauf vor.'
Darüber hinaus setzt die Frage nach der Erlaubnis zur Kritik einen neuen Akzent im Beziehungsgeschehen, so dass nunmehr unabhängig von der Rolle und Position die Freiwilligkeit angesprochen ist, die jenseits der Verpflichtungen innerhalb von Beziehungsgeflechten liegt. Und da kann es sich ereignen, dass man – aus welchen Gründen auch immer - die Zustimmung des anderen gar nicht mehr einholen will, weil man sich im recht glaubt zu maßregeln, zu degradieren, zu attackieren und zu kritisieren.

Innerhalb einiger klösterlicher Gemeinschaften, gibt es bekanntlich die sogenannte Correctio Fraterna, das gegenseitige Zurechtweisen. Darin ist die Bereitschaft enthalten, dass Kritik am eigenen Verhalten zugelassen wird, und das bedeutet, demjenigen die Kritik zu sagen, den diese auch betrifft. Ist dies nicht höchst vernünftig? Sie geschieht unter Brüdern und Schwestern ohne Eingreifen der Oberen.
Nun kennen wir alle die beliebteste Art und Weise, auf Kritik zu reagieren – und das häufig ohne richtig Luft zu holen -: Wir schleudern geradewegs dem anderen einen seiner Fehler zurück: 'Das müssen Sie gerade sagen...! Glauben Sie ja nicht, dass Sie frei von Fehlern sind! Und wenn wir schon einmal dabei sind, was mir schon lange stinkt...!'
Mit einer solchen Reaktion 'verpassen' wir etwas, entweder wir verpassen unserem Gegenüber einen Vorwurf, oder wir versäumen eine notwendige Korrektur des eigenen Verhaltens.
Und somit stellt die Correctio nicht das Startzeichen für den gegenseitigen Schlagabtausch dar, sondern ist die Bereitschaft, sich den eigenen Fehlern zu stellen.

Neben dem Training für das gelassene und einfühlende Entgegennehmen von Tadel und Missbilligung besteht auch die Möglichkeit, sich selbst auf die Suche zu begeben, indem man das eigene Verhalten ehrlicher hinterfragt. Früher wurde ein solches Vorhaben mit dem Begriff 'Gewissenserforschung' bezeichnet. Und heute? Ich habe den Eindruck, daß die Zeiten vorbei sind, da man sich in einem guten Sinne ins Gewissen reden ließ!

Wagen Sie einen Blick in Ihr eigenes Selbst, indem Sie einmal die nachfolgende Begebenheit aus dem Leben der Karmelitin und Philosophin Edith Stein (1891-1942) durchdenken:
Vor ihrem Studienortwechsel von Münster nach Göttingen verabschiedet sich ein Freund von ihr mit den Worten:
"Nun wünsche ich Ihnen, daß Sie in Göttingen Menschen treffen möchten, die ihnen recht zusagen. Denn hier sind Sie doch etwas gar zu kritisch geworden."
Diese Worte machen sie betroffen, und sie stellt fest, daß sie im Grunde genommen an keinen Tadel gewöhnt ist, da ihr alle mit Zuneigung und Bewunderung begegnen. "So lebte ich in der naiven Selbsttäuschung, daß alles an mir recht sei: wie es bei ungläubigen Menschen mit einem hochgespannten ethischen Idealismus häufig ist. Weil man für das Gute begeistert ist, glaubt man selbst gut zu sein." Diese Abschiedsworte "waren wie ein erster Weckruf, der mich nachdenklich machte".
Möglicherweise gelingt es Ihnen in der nächsten Zeit einmal mehr, sich 'kritisch' aufwecken zu lassen.

Eine Woche mit guten Einblicken wünscht Ihnen

Udo Manshausen

Internetmeditation März 2000 von Udo Manshausen
www.manshausen.de

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