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 Stressbewältigung
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Aufgabe 5a
Eine Minute
Worte hören

VERTIEFUNG DES INHALTS
 

"Es ist dir ein anderer vorgezogen worden bei einem Essen, bei einer Begrüßung, bei einer Beratung. Ist das nun etwas Wertvolles, so mußt du dich freuen, daß es Jenem zuteil geworden ist. Sind es aber keine Güter, warum ärgert es dich, daß du sie nicht erlangt hast?
Bedenke: Wenn du nicht dasselbe tust wie der andere, um zu erlangen, was nicht in deiner Macht steht, dann kannst du auch nicht auf dasselbe Anspruch erheben. Denn wie kann einer, der sich nicht oft in den Vorzimmern der Großen aufhält, sich nicht in ihrem Gefolge befindet, nicht schmeichelt, wie kann der dasselbe erreichen, wie der, der das alles tut? Wie ungerecht und anspruchsvoll bist du, wenn du, ohne jene Auszeichnungen mit diesen Diensten zu erkaufen, sie umsonst empfangen willst...
Ist es nun zu Deinem Besten, so bezahle den Preis, wofür man diese Ehre kauft...
Hast du aber nichts anstatt der Einladung? Du hast das Bewußtsein, daß du den nicht gelobt hast, den du nicht loben wolltest, und du mußtest dich nicht an seiner Tür herumdrücken."
Epiktet

"Jesus wandte sich an das Volk und sagte: Die Schriftgelehrten und Pharisäer habe sich auf den Stuhl des Mose gesetzt. Tut und befolgt alles, was sie euch sagen, aber richtet euch nicht nach dem, was sie tun; denn sie reden nur, tun selbst aber nicht, was sie sagen. Sie schnüren schwere Lasten zusammen und legen sie den Menschen auf die Schultern, wollen selber aber keinen Finger rühren, um die Lasten zur tragen. Alles tun sie nur, damit die Menschen es sehen. Sie machen ihre Gebetsriemen breit und die Quasten an ihren Gewändern lang, bei jedem Festmahl möchten sie den Ehrenplatz und in der Synagoge die vordersten Sitze haben, und auf den Straßen und Plätzen lassen sie sich gerne grüßen und von den Leuten Rabbi (Meister) nennen. Ihr aber sollt euch nicht Rabbi nennen lassen; denn nur einer ist euer Meister, ihr alle aber seid Brüder...
Der Größte von euch soll euer Diener sein. Denn wer sich selbst erhöht wird erniedrigt werden, und wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden."
Matthäusevangelium 23f.

Zur Zeit des stoischen Philosophen Epiktet (50-138 n.Chr.) war es etwas Besonderes mit dem kaiserlichen Hofe oder den angesehenen Reichen in Verbindung oder in deren Sichtweite zu sein.
Wer würde heute nicht eine spontane Einladung des Bundeskanzlers oder des Bundespräsidenten zum Essen annehmen und sich nicht nur darüber freuen, sondern es ebenso die anderen wissen lassen?
Im Bereich des Sports kann man sich als Sponsor oder Mäzen das Abenddinner mit einem berühmten Sportler durch einen entsprechenden Werbevertrag erkaufen. Alles hat eben seinen Preis. Und wer nicht in seinem Leben einmal stolzer Autogrammjäger gewesen ist, der weiß nicht, wie viel Zeit und Mühen es kostet, mit einem Promi auf Tuchfühlung zu gelangen.

Neben diesem eher profanen Bereich mit seinen Wertehierarchien gibt es im Rahmen einer gesellschaftlichen Öffentlichkeit noch den Umkreis der Religionen mit ihren Rangordnungen. Das Evangelium mit dem Verfassernamen Matthäus (Entstehungszeit zwischen 80-100 n.Chr.) nimmt nicht minder kritisch die Gebärden der kirchlichen Führer unter die Lupe. Jesus von Nazareth macht den Menschen, ebenso ins Heute gesprochen, unmißverständlich klar, daß die narzißtische Eigenpflege der Bischöfe und Pfarrer - und natürlich auch des Papstes – grundlegend und total an der göttlichen Botschaft für die Glaubenden vorbeigeht. Gott möchte die Nähe zum Menschen auf der Grundlage einer ethisch verstandenen Gleichheit.
Natürlich ist das, was bis in extreme Formen ausarten kann, ein Menschenkult, der sicher die Schattenseite jedes einzelnen offenbart. Denn sonst wäre die Sucht nach dem Dabeisein sowie die Kritik an deren Fehlformen nicht derartig ausgeprägt. Mit der Schattenseite ist gemeint, dass wir uns alle gerne von anderen wie auf einem Podest betrachten lassen. Genauso wie die Pfarrer, die allein vor der Gemeinde stehen, sich von der Gemeinde feiern lassen, obwohl die Freundin und Lebensgefährtin bereits an der Kirchentüre wartet, anstatt sie mit nach vorne ins Leben zu holen.

Auf der anderen Seite sind diejenigen, die sich von solchen Ehrungen und Anerkennungen ausgeschlossen fühlen. Damit sind nicht nur die Randgruppen gemeint, sondern auch die Menschen, die die geforderten Preise – oder auch Opfer - nicht bezahlen können oder wollen.

Wir müssen dem Sog einer Lebensshow selbst Einhalt gebieten, indem wir uns, wie Epiktet es anregt, befragen, ob wir wirklich bereit sind, das Geforderte zu leisten, um mit dabeisein zu können. Und – ob dieses Ziel das alles wert ist, mich selbst klein und schleimig zu machen, vom Zeitaufwand innerhalb der begrenzten Lebenszeit ganz zu schweigen.
Jesus von Nazareth möchte in ähnlicher Weise die Menschen wachrütteln und teilt ihnen mit, daß sie sich von solchen religiösen Vertretern verabschieden sollen, die in hoheitlichem Abstand bestimmen wollen, was der Gläubige zu tun hat, um mit dabeisein zu können. Ja, er fordert jeden einzelnen auf, ein solches Gehabe und Getue nicht gutzuheißen und es selbst ebenso beiseite zulassen. Vielleicht muß dafür der Weg von der Institution Kirche sowie von einer scheinheiligen Demokratie wegführen. Dieses zeichnet sich deutlich ab, indem die Menschen sich intuitiv oder bewußt aus der Kirche abmelden oder nicht mehr zur Wahl gehen.
Wir können mit einer solchen Verabschiedung – dieses wird sicher nicht ohne seelisches Ringen vonstatten gehen – viel eher eine Befreiung von der Sogwirkung falscher und fragwürdiger Ehrungen erwirken, um uns einer anderen Form von Dabeisein zu widmen: der ehrlichen und hilfreichen Begegnung untereinander.
Achten wir darauf, daß ein Dabeisein sich nicht so auswirkt, daß wir nur sagen können, ‚ich war dabei‘, und das war eigentlich alles und nicht mehr.

Es ist schon interessant, wie zwei Menschen, Epiktet und Jesus aus Nazareth, aus unterschiedlichen Kulturkreisen in ihrer grundlegenden Sichtweise zu ähnlichen Hinweisen, Warnungen und Standpunkten kommen. Vielleicht ist diese Tatsache ein Hinweis auf eine Essenz von Wahrheitsfeldern, die alle Menschen gleichermaßen betrifft, weil die Verführungen und Fehlformen menschlichen Verhaltens in der Menschheitsgeschichte sich aus ähnlichen Urgründen zusammensetzen.
Es hat sich bei diesen beschriebenen Phänomenen gezeigt, daß die Sprengkraft von Gedanken um so größer ist, je tiefer und grundsätzlicher die Kritik und das Infragestellen ansetzen. Die Anfeindungen gegenüber der stoischen Philosophie, die Epiktet auszuhalten hatte, und die affektive Ermordung von Jesus von Nazareth sind ein wahrer Beleg für den Tiefsinn und die Brisanz dieser Ideen.

Machen wir uns auf den Weg, uns selbst nichts mehr vorzumachen und uns von anderen auch nichts mehr vormachen zu lassen. Lesen wir in solchen Gefahrenmomenten einfach die Klassiker: Epiktet und Jesus von Nazareth.

Übung 4 | Aus dem Matthäusevangelium