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 Stressbewältigung
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Aufgabe 5a
Eine Minute
Worte hören

VERTIEFUNG DES INHALTS
 

Das leere Boot

sich selbst loslassen


‚Nein, obwohl vieles in der eigenen Partnerschaft Unzufriedenheit auslöst, möchte ich mich nicht trennen, sondern leidend und mit viel Hoffnung an den Wünschen festhalten. Trennung kommt für mich nicht in Frage, jetzt, wo ich schon so lange ausgehalten habe, und ein Alleinsein ist mir auch nicht möglich.‘

‚Sie fragen mich, warum ich nach meinem ersten Herzinfarkt keine neue Stelle gesucht habe. Auch wenn ich in der beruflichen Umgebung kaputt zu gehen scheine, was bleibt mir denn anderes übrig, als mich weiterhin unterdrücken zu lassen!‘

‚Nein, um Gottes Willen kann ich doch meine klösterliche Gemeinschaft nicht verlassen. Ich vereinsame zwar zusehends und fühle mich nicht mehr gebraucht, aber meine Angst, plötzlich auf der Straße ohne Absicherung zu stehen, ist stärker.‘

Welchen eigenen Schwerpunkt Sie in diesem Zusammenhang auch immer setzen mögen, es geht an dieser Stelle nicht um Abschied, sondern um Loslassen. Damit ist gemeint, dass die oben angeführten inneren Breakpoints, – die harten inneren anstehenden Wende- oder Bruchpunkte des Lebens – zunächst vom Loslassen innerhalb der bestehenden Beziehungssysteme in den Blick genommen werden müssen. Wir reden oft allzu schnell vom Ende, davon, dass doch alles keinen Zweck mehr hat. Dabei bemerken wir nicht, dass wir möglicherweise nicht alles verlassen müssen und dies zudem häufig auch gar nicht können, sondern uns vielmehr schmerzlich und punktuell von unerreichbaren Zielen verabschieden sollten.
Auch wenn sich durch einen möglichen Weggang von Vertrautem befriedigendere Wege öffnen, eine neue Enge mit dem dazugehörigen Loslassen steht wiederum an der nächsten Ecke. Selbstverständlich geschieht Weiterentwicklung ebenso dadurch, dass ich tatsächlich äußere und innere Bindungen komplett zurücklasse. Aber um diesen Aspekt soll es hier nicht gehen. Es geht vielmehr um die Dinge, die ich vor allem im eigenen Inneren entwickeln muss, ohne dass sich die Außenwelt zu unseren erhofften Gunsten verändert. Natürlich hätten wir viel lieber, dass sich alles nach unseren Vorstellungen verändern möge!

Der in einer früheren Meditation bereits zitierte chinesische Philosoph Tschuang-tse (+300 v. Chr.), auch Dschuang Dsi geschrieben, setzt uns zunächst in ein Boot, mit dem wir über den Fluss des Lebens fahren:
„Wenn jemand einen Fluss überquert und sein Kahn mit einem leeren Boot zusammenstößt, wird er, selbst wenn er zu Wutausbrüchen neigt, sich nicht lauthals erregen. Aber wenn er in dem andern Boot jemanden erblickt, dann wird er ihm zurufen: Wirf dein Ruder herum! Hört der andere den Ruf nicht, wird unser Mann wieder rufen, wird er noch einmal schreien. Am Ende bricht er in Flüche aus, und dies alles nur deshalb, weil in dem anderen Boot einer sitzt. Wäre das andere Boot nämlich leer, würde unser Mann nicht schreien und nicht fluchen.
Wenn du den Fluss des Lebens in einem leeren Boot überqueren kannst, dann wird dir niemand widersprechen, und niemand wird dir schaden.“ (Übersetzung von Thomas Merton)

Tschuang-tse vertritt die innere Einstellung, dass es im Leben im Wesentlichen darauf ankommt, sein eigenes Boot leer zu machen. Das wird nicht so einfach sein und somit zu einer intensiven und andauernden Lebensaufgabe werden. Wir reagieren empfindlich, wenn das Gefühl von Bedeutungslosigkeit unsere Seele erreicht. Und manche zentralen Bedürfnisse lassen sich nicht so leicht über Bord werfen. Sich nicht aufrecht und sichtbar für alle als Galionsfigur zu präsentieren, aus Weisheit in den Hintergrund zu treten, macht es notwendig, die Lautlosigkeit einzuüben, die eigene Macht abzugeben, andere nicht mehr zu beurteilen und es aufzugeben, sich über das Leistungsdenken zu definieren, dies wird das Lebensboot erheblich erleichtern. Wer dies alles erreicht, ist in den Augen des Tschuang-tse der vollkommene Mensch: Sein Boot ist leer.

Jedoch ist eine solche Vollkommenheit nicht im Sinne eines ruhmvollen Zieles zu verstehen, sondern sie ist ein Zustand eines umfassenden Loslassens, einer inneren Befreiung, einer inneren Ruhe, die sich dem Lebensfluss mit Gelassenheit hingibt. Wie dieses genau zu verstehen ist, führt der Mystiker und Dominikaner Meister Eckhart (1260-1327) unmissverständlich aus. In seinen Gedanken erteilt er der christlichen Sehnsucht mancher Menschen, die da glauben, durch Verzicht einem himmlischen Lohn entgegenzusehen, eine deutliche Absage:
„Es kam einmal ein Mensch zu mir - es ist nicht lange her -, und er sagte, er habe große Dinge hingegeben an Grundbesitz, an Vermögen, um dessentwillen, dass er seine Seele rettete. Da dachte ich: ‚Ach, wie wenig und gar nichts hast du gelassen! Es ist eine Blindheit und eine Torheit, solange du irgendwie beachtest, was du gelassen hast. Hast du dich selbst gelassen, dann hast du gelassen.‘ Ein Mensch, der sich selbst gelassen hat, der ist so lauter, dass die Welt ihn nicht zu ertragen vermag.“ (aus: Deutsche Traktate und Predigten, Zürich 1979)
Um diesen Überlegungen folgen zu können, müssen wir möglicherweise all das loslassen, was unsere Erwartungshaltungen dagegen stellen. Wir sollen so sein wie wir sind, nichts im Leben für uns an Vorteilen herausschlagen, hineintauchen in das Leben und es auf uns zukommen lassen und uns jetzt schon dem späteren Vergessensein hingeben, so dass unsere Schritte keine Spuren hinterlassen – wie schrecklich!
Da wir Menschen in Stunden der Wahrheit eher zu Verhandlungen und Kompromissen bereit sind, und bevor wir uns eigentlich ganz in die Einsamkeit und Bedeutungslosigkeit zurückziehen müssten, könnten uns Entscheidungen helfen, unser prunkvolles Handelsschiff, das für einige schon zu einer Galeere geworden ist, zu entlasten. Eines verspreche ich Ihnen: Loslassen kann Spaß machen, befreien und dazu verhelfen, wahrhaftiger zu leben. Aber dies soll kein Anreiz sein, denn es wird darauf ankommen, uns selbstlos freizulassen, sondern nur der Indikator dafür, dass Sie wissen, dass Sie losgelassen haben!

Udo Manshausen

Das leere Boot